Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung kommt näher…

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14. Mai 2019 (Az. C-55/18) zur Arbeitszeiterfassung hat für große Aufmerksamkeit in Deutschland gesorgt. Der EuGH hatte in seinem Urteil entschieden, dass die europäische Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG nur dann effektiv zur Geltung komme, wenn durch ein objektives und verlässliches System die Arbeitszeit des Arbeitnehmers erfasst würde. Nur so könne dem notwendigen Arbeitnehmerschutz Genüge getan werden (ausführlich zum Urteil auch Fuhlrott/Garden, Arbeitsrechtliche Folgen des „Stechuhr-Urteils“ des EuGH, ArbRAktuell 2019, S. 263 ff.).

Expertenstellungnahmen der Bundesminister: Handlungsbedarf!

Zwischen Bundeswirtschaftsministerium und Bundesarbeitsministerium bestand zunächst Uneinigkeit, welche Folgen das Urteil für Deutschland haben werde. Die daraufhin jeweils eingeholten gutachterlichen Stellungnahmen kamen jedoch beide zu dem Ergebnis, dass Handlungsbedarf des deutschen Gesetzgebers bestehe. Das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) in seiner derzeitigen Fassung entspreche nicht den Vorgaben, die der EuGH fordere. Es müsse daher geändert werden und eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung eingeführt werden, so die Sachverständigen (vgl. nur die Stellungnahme des Gutachters für das Bundesarbeitsministerium Prof. Dr. Bayreuther, erschienen als Aufsatz: Einrichtung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung, NZA 2020, S. 1 ff.). Eine Umsetzung sei demnach verpflichtend, aber auch notwendig: Ohne eine Umsetzung des Urteils in das nationale Recht bestehe grundsätzlich keine entsprechende Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Das Urteil lasse nämlich verschiedene Spielräume zu, die der Gesetzgeber erst ausfüllen müsse. Eine unmittelbare Wirkung der Arbeitszeitrichtlinie bzw. der Aussagen des Urteils wurde daher ganz überwiegend abgelehnt.

Vereinzelte Gerichte wenden Richtlinienvorgaben unmittelbar an

In der Zwischenzeit hatten bereits vereinzelte Gerichte auch ohne Umsetzung des Urteils in ein deutsches Gesetz Arbeitgeber zur Zeiterfassung verpflichtet gesehen. So verurteilte das Arbeitsgericht Emden im Februar 2020 (Urt. v. 20.2.20202 Ca 94/19) einen Arbeitgeber zur Zahlung einer durch den Arbeitnehmer eingeklagten Vergütung. Streitig zwischen den Parteien war, wieviele Stunden der Arbeitnehmer gearbeitet hatte. Der Umstand, dass der Arbeitgeber die Arbeitszeit nicht erfasst hatte, ging zu Lasten des Arbeitgebers. Auch wenn das Urteil auf massive Kritik gestoßen ist (vgl. die Anmerkung von Fuhlrott, NZA-RR 2020, S. 279), hat auch das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (Urt. v. 4.6.2020 – 10 Sa 2130/19) in einer Entscheidung zur Zeiterfassung per Fingerprint in seinen Gründen anklingen lassen, Arbeitgeber seien unmittelbar aufgrund des Urteils zur Zeiterfassung verpflichtet.

Gesetzgeber: Ausschuss für Arbeit und Soziales berät

Allmählich ist auch Bewegung in die parlamentarische Debatte geraten: Am 14.09.2020 tagte der Ausschuss für Arbeit und Soziales mit dem einzigen Tagesordnungspunkt der Erörterung der Pflicht des Arbeitgebers zur Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung und Änderungen im Befristungsrecht und hörte dazu verschiedene Experten an. Deren Nachweise und Gutachten sind über die website des Deutschen Bundestags (hier) abrufbar.

Aus den Stellungnahmen geht hervor, wie kontrovers das Thema diskutiert wird. So wird in der Stellungnahme der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) eine gesetzliche Regelung stark kritisiert:

„Flexibilität bei der Arbeitszeit und eine vorausschauende Personalplanung, die Einstellungen auch dann ermöglicht, wenn ein dauerhafter Bedarf an der Arbeitsleistung noch nicht absehbar ist, sind für den Arbeitsmarkt unerlässlich, sie dienen Unternehmen wie Beschäftigten gleichermaßen. Daher müssen Regulierungen, die dies beschränken auf den Prüfstand; keinesfalls dür-fen neue Beschränkungen eingeführt werden.“

Von Gewerkschaftsseite (Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes, DGB) wird hingegen die Notwendigkeit der Zeiterfassung betont und zudem darauf hingewiesen, dass bereits Gerichte eine derartige Pflicht unmittelbar anerkennen:

„Die Anpassung der Gesetzeslage an die Vorgaben der EuGH-Entscheidung erfordert nicht nur eine Regelung einer Verpflichtung zurErfassung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeiten sondern auch die Berücksichtigung der vom EuGH aufgestellten qualitativen und quantitativen Anforderungen an die objektive, verlässlicheund zugängliche Zeiterfassung. Objektiv ist eine Zeiterfassung dann, wenn ihr nachweislich die tatsächlich erbrachte Arbeit zugrunde liegt. Die Beteiligung der Beschäftigten an der Zeiterfassung steht der Objektivität prinzipiell nicht entgegen, für die Einhaltung der gesetzlichen Arbeitszeitgrenzen und die Richtigkeit der Erfassung trägt aber der Arbeitgeber weiterhin die Verantwortung. Eine verlässliche Zeiterfassung ist am besten unverzüglich möglich und auch nötig. Sie muss alle Arbeitszeiten im arbeitszeitrechtlichen Sinne erfassen und damit auch jegliche Bereitschaftszeiten und Zeiten von Arbeitsbereitschaft. Zugänglich muss die Zeiterfassung zum einen für beide Seiten des Arbeitsverhältnisses, zum anderen aber auch für diejenigen sein, die zur Überwachung und Kontrolle der Erfassung befugt sind: die Aufsichtsbehörden und die Interessenvertretungen in den Betrieben und Dienststellen.“

Ausblick: Keine Frage des „ob“, sondern eine Frage des „wann“ und „wie“

Die gegenläufigen Stellungnahmen verdeutlichen, wie kontrovers das Thema und ein späterer Gesetzesentwurf diskutiert werden dürften. Während weitestgehend Einigkeit bestehen dürfte, dass eine Änderung des Arbeitszeitgesetzes notwendig sein wird und eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung dem Grunde nach kommen wird, sind die Gestaltungsspielräume weiterhin ungeklärt: Soll es eine allgemeine Pflicht für alle Branchen und Unternehmen jedweder Größe geben? Oder sollen branchenspezifische Ausnahmen möglich sein? Darf nach der Unternehmensgröße unterschieden werden und sich die Anforderungen unterscheiden? Muss der Arbeitgeber die Zeiterfassung seiner Arbeitnehmer nachhalten oder muss er nur ein System zur Verfügung stellen?

Kurzum: Die Diskussion zur Pflicht zur Arbeitszeiterfassung hat gerade erst begonnen. Sie wird eines der bedeutendsten Themen im Arbeitsrecht in den kommenden Monaten sein.

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